Freitag, 16. September 2016

13.10.2016 - Die Werkstattschule Rostock


Im Gebäude der Werkstattschule in Rostock (WiR) werden wir gleich von einer freundlichen Atmosphäre empfangen. Der Ankömmling kann hier, noch orientierungslos im Foyer stehend, durch eine verglaste Wand direkt in das Lehrerzimmer im ersten Stock sehen. Nicht nur die Wand ist ungewöhnlich, auch die Zusammensetzung der Menschen, die da zu sehen sind, ist es – da tummeln sich nicht nur Lehrer*innen! Genauso selbstverständlich wie die Lehrer*innen bewegen sich auch Schüler*innen durch den Raum. Wir wissen aber, dass es das Lehrerzimmer ist, weil Jannis es uns bereits verraten hat. Der war bei einer früheren Lernreise schon einmal hier.

Noch bevor wir begrüßt werden, haben wir den Eindruck (der sich später während der Unterrichtsbeobachtungen und im Schulleitergespräch vertiefen wird):
Hier wird eine besondere Beziehungskultur gepflegt!

Für die Unterrichtsbeobachtungen, von uns “Hospitation” genannt, werden wir auf verschiedene Jahrgangsstufen von der Grundschule bis zur 12. Klasse eingeteilt und erfahren,

- dass alle Schüler*innen in jahrgangsübergreifende Stammgruppen eingeteilt sind. In der Primarstufe werden die Klassen 1–4 gemeinsam unterrichtet, ab der 5. Klasse sind immer zwei Jahrgangsstufen zusammen; aufgeteilt in 4 “Stammgruppen”

- dass für alle der Schultag mit einem halbstündigen Morgenkreis in ihrer Stammgruppe beginnt (der, abgesehen davon, dass er von den Klassenleiter*innen betreut wird und in einem Sitzkreis statt findet, keinen festen Regeln folgt)

- dass wir in einer Zeit gekommen sind, der die Schule ihren Namen verdankt: Es ist Werkstattphase.


Der Begriff “Werkstatt” ist hier eher metaphorisch, man sollte sich jedenfalls keine besonders ausgefeilte handwerkliche Ausbildung durch Schreiner oder Zimmermänner vorstellen. Eine Werkstatt ist hier ein Art Projektphase oder Epoche, in der fächerübergreifend an einem Thema gearbeitet wird.
Jeder Doppeljahrgang bearbeitet ein Thema. Als Beispiel: Die Klassen 9 und 10 haben das Thema DDR. Sie waren (wie alle Klassen der Schule) die erste Schulwoche auf Klassenfahrt. Diese hat sie nach Berlin geführt, wo sich in Gedenkstätten und Museen über Geschichte und Leben in der DDR informiert haben. Die nächsten zwei Wochen werden sie Pionierslieder singen (=Musik), Literarische Werke von Zeitzeugen lesen und bearbeiten (=Deutsch), die Geschichte der Trennung und Wiedervereinigung genauer kennen lernen (=Geschichte), Plan- und Marktwirtschaft unterscheiden lernen sowie die Verbreitung des Sozialismus und der Planwirtschaft auf der Erde (=Geografie) u.s.w. Die Zusammensetzung der Fächer variiert je Werkstatt, aber jede Werkstatt stellt eine breite fachliche Vernetzung dar.
Zur Werkstatt gibt es einen speziellen Werkstatt-Stundenplan und eine Werkstatt-Mappe mit Materialien, die die Schüler*innen selbstständig, zu zweit in der Gruppe oder alleine bearbeiten. Außerdem liegen zusätzliche Materialien herum, auf die zurückgreifen kann, wer etwas noch vertiefender erfahren möchte.
Weitere Angebote stehen als Wahlpflicht zur Auswahl. In diese kann und muss man sich einschreiben. Die 11./12. Klasse, die das Thema “Identity” bearbeitet, kann hier beispielsweise wählen zwischen einer Einheit Yoga und der Big Five, einer kurzen Einführung über psychologische Katergorisierungen menschlicher Persönlichkeitsmerkmale, die dann im Morgenkreis stattfindet.

Die “Werkstätten” sind nicht die einzige außergewöhnliche Unterrichtsform an der WiR – alle Projektphasen, AG's, Fahrten und Events hier zu beschreiben, würde jedoch den Rahmen sprengen. Man kann zusammenfassend sagen, dass von der ersten Klassen an viel individuell und autonom gelernt wird, viel Wahlmöglichkeit gegeben wird und die Lehrer*innen dabei einen engen Kontakt pflegen und den Schüler*innen helfend und beratend zur Seite stehen.

Es gibt aber auch “normalen” Unterricht. Außerhalb der Werkstattphase werden viele Fächer dann nicht in den Stammgruppen, sondern in den Jahrgangsstufen (hier wird der Begriff Kurs genutzt, das Wort “Klasse” ist uns an dieser Schule nicht begegnet) und “normalen” Unterrichtsstunden gelehrt.

Bei der Entwicklung der Unterrichtsformen haben sich die innovationsbereiten Gründer*innen verschiedenste pädagogische Konzepte genau angeschaut und sich inspirieren lassen. Auch jetzt noch ist Bereitschaft zu Veränderung ein grundlegendes Prinzip der Schule, die sich als “Lernende Institution” versteht.

Die (demokratisch für vier Jahre gewählte) pädagogische Leiterin Angela Eggers der Sekundarstufe sagt dazu: “Grundlagen tragen durch den Alltag. Um Grundlagen zu legen braucht man Zeit und ruhige Orte. Die versuchen wir strukturell zu schaffen.” Dafür hat die Schule auf verschiedensten Ebenen verschiedene Verfahren etabliert. Es gibt

- Kongresse und Tagungen von Gruppen von Lehrer*innren in verschiedener Zusammensetzung (Fachbereiche, Klassenleiter*innen, pädagogische Leitung, Gesamtkollegium, ….) bieten Raum und Zeit, für alltägliche Probleme gemeinsame Lösungen zu entwickeln.

-In der kollegialen Evaluation besuchen Lehrende sich gegenseitig im Unterricht um diesen gemeinsam zu evaluieren

-Einmal jährlich wird eine Schülerevaluation durchgeführt, bei der die Schüler*innen auf einem Fragebogen nach ihrer Meinung befragt werden.

Wenn Änderungen angestrebt werden gelten immer drei Leitfragen: Ist das was wir wollen beziehungsfördernd? Ist es entwicklungsfördernd? Und auch leistungsfördernd?
Ein großes Diskussionsthema im Kollegium ist derzeit die Frage “Wie wird Beziehung gestaltet?”. Dafür wird momentan an einer Erneuerung und Weiterentwicklung des Kummerkastens gearbeitet werden. Anstelle eines alten grauen Briefkastens soll ein ansprechendes System treten, in dem sorgengeplagte Schüler*innen den richtigen Ansprechpartner für ihr individuelles Probleme ermitteln können.

Die Schule mit ihrer Selbstreflektion, der Bereitschaft zur Veränderung und einem auffallend achtsamen und harmonischen Umgang miteinander hat uns beeindruckt. Natürlich drängt sich im Kontext einer Schule in privater Trägerschaft immer auch die Frage auf, ob diese harmonische Gemeinschaft nur zu Stande kommen kann, weil das Klientel von vornherein nicht die gesellschaftliche Realität abbildet, sondern einem gehobenen Kreis bildungsnaher, wirtschaftlich gut situierter Elternhäuser entstammt. Auch die pädagogischen Leiter sind sich dessen bewusst und sagen auch klar, dass es zwar Stipendienplätze gibt und auch Schüler*innen (z.B. Flüchtlingskinder) völlig ohne Schulgeld aufgenommen werden, aber trotzdem eine automatische Vorauswahl der Schüler*innen dadurch passiert, dass viele Elternhäuser über die WiR als mögliche Schule für ihr Kind nicht einmal nachdenken.
Konzeptionell steht die Schule einer Vielfalt an Schüler*innen offen. Auch Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf sind hier zu finden. Wobei die Schule den Inklusionsgedanken nicht in Bezug auf Behinderung oder spezieller Förderung sieht (wie das derzeit politisch oft geschieht), sondern im eigentlichen Sinn: Ein vielfältiges und achtsames Menschenbild als anzustrebendes Ideal.


Wenn ihr weiter neugierig seid, hört unseren Podcast!! Da erzählen Vincent, Robert und ich euch von den Lehr- und Lernformen, die uns an der WiR begegnet sind..

1 Kommentar:

  1. Die ganzen Texte lesen sich so gut! Echt spannend das Konzept von der WiR.
    Danke fürs mit auf die Reise nehmen!

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